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Ein wohlfeiler Schmerz

Aktualisiert: 14. Feb. 2019

1

Klopf, klopf. Grüß Gott. Wir würden gern mit Ihnen über einen Toten sprechen. Wie war die Verstorbene denn so? Oh, Sie haben ihn also gekannt. Mh-hm. Ah. Oh je. Ach so? Ja, ja. Wahnsinn. Wer wir überhaupt sind? Ach, wir machen da so ein Projekt. Über einsame Begräbnisse. Ja, wir kommen vom Theater. Mh-hm. Ja.


2

Wow. A hatte einen öffentlichen Google Maps-Account. Mit 50 Rezensionen zu Lokalen und Geschäften in seiner Nähe! Jackpot.


Heftig. B hatte vier Facebookaccounts. So sah er also aus. Seine Bilder hat er oft selbst gelikt. Irgendwie traurig. Schau, offenbar hat er diese Zigaretten geraucht. Echt spannend.


Mist. Schon wieder keiner, der was weiß über C. Echt gerade nicht sonderlich ergiebig, die Fährte! Ob das ausreicht?


3

Euch hat der Himmel geschickt, sagt Nachbarin A. Ohne uns hätte sie vielleicht nie von dem Begräbnis erfahren, von der Grabstelle auf dem Zentralfriedhof, die sie nun besuchen kann, oder vom Notar, zu dem wir gemeinsam mit ihr gehen, damit sie die aus dem Krankenhaus abgeholten, aufbewahrten Gegenstände des Verstorbenen zurückgeben kann.


Die hat die Hölle geschickt, denkt Nachbar B. Er wirkt nervös, spricht kein Deutsch, versteht uns nicht. Als wir ihm gegenüber fragend den Namen des Verstorbenen erwähnen, der zuletzt an derselben Adresse wie er jetzt wohnte, vielleicht sogar dort gestorben ist, beginnt er sichtlich zu zittern, seine Augen werden panisch, er beteuert, dass ihm der Name nichts sage. Wir lassen ihn in Frieden.


4

Laura hat recht. Kunst tut weh.


Als wir ins Haus des Ex-Manns von C gehen, um an seine Tür zu klopfen, zieht sich mir die Brust zu, mein Kopf rast. Der Gedanke, einem Menschen womöglich die Nachricht vom Tod einer Nahestehenden zu überbringen, wühlt in mir. Das war nicht der Sinn dieses Projekts: „Wir sind Künstler, keine Sozialarbeiter“ – oder wie war das?


Die Tür öffnet sich. Der Mann weiß eh schon Bescheid, bittet uns rein. Er wirkt nicht sonderlich betroffen, dafür umso redseliger. Puh.


5

Laura hat unrecht. Kunst tut nicht weh.


Weh tun Herzinfarkte, Magengeschwüre, jahrzehntelange Krankheiten, Obdachlosig- und Arbeitsunfähigkeit und die haftende Gewissheit, nicht beim Begräbnis einer Person gewesen zu sein, die man gern noch verabschiedet hätte, weil einem keiner Bescheid gesagt hat. Die Kunst hingegen gibt uns die Möglichkeit, vom Rücksitz aus und gefahrlos in die Schluchten des Lebens zu stürzen: Der Airbag, der uns in unser privilegiertes Leben katapultiert, zündet noch immer. Ein wohlfeiler Schmerz.


Kein Satz verlogener als der jenes Künstlers, der „nicht unterhalten, sondern zur Reflexion anregen“ will. Als gäbe es da für uns Kunstschaffende einen Unterschied. Suchen wir nicht immer nach dem Thrill, wenn wir uns dem bisher Ungedachten, dem gar vielleicht Undenkbaren stellen? Bereichert es uns nicht, wenn wir uns selbst spüren in unserer Überforderung, wenn wir uns im Spiegel der harten Wirklichkeit unserer eigenen (moralischen) Integrität vergewissern? Machen wir das nicht immer alles in letzter Konsequenz für uns und nur für uns?


6


Produzier' dich nicht wieder so, Kai. Auch dir gehen die Schicksale persönlich nahe.


Wieso stehst du denn so verdruckst in zweiter Reihe, wenn ihr an fremde Türen klopft? Wieso empört es dich, wenn du wieder einmal erfährst, dass wer nichts vom Begräbnis seiner Nachbarin erfahren hat, obwohl er ihr nahestand? Wieso fühlt es sich für dich komisch an, im Leben toter Fremder herumzuwühlen, wo du doch selbst gar nicht an ein Dasein nach dem Tod glaubst? Wieso überlegen du und deine Kolleginnen, aus den Erfahrungen der letzten Wochen Vorschläge zu formulieren, die den behördlichen Umgang mit einsamen Begräbnissen und das damit verbundene Prozedere verbessern könnten?


Weil sich das alles so geil nach Leben anfühlt?


Weil Kunst eben doch die Welt verbessern kann?


Ach komm.


7

Alte, aber nach wie vor hilfreiche Erkenntnis: Kunst und Moral bilden ein zweischneidiges Schwert. Sie sind miteinander untrennbar verknüpft, liegen aber nicht zwingend auf derselben Seite. Packt man das Schwert im vielleicht richtigen Moment von der falschen Seite, verwandelt es sich schnell zur Moralkeule. Schlagen wir rücksichtslos drauf zu, wird es zum Holzhammer. Zweifeln und zögern wir hingegen zu lang, trifft es nicht.


Übrig bleibt nur der Versuch des Unmöglichen. Stellen wir uns also dem Unbehagen, dem gefährlichen Graubereich zwischen Pietät und Sensationslust, in dem auch die Kunst zu finden ist.


Im schlechtesten Fall finden wir dort nichts; im besten Fall jedoch das Nebeneinander des Widersprüchlichen. Oder, anders gesagt, das Leben.

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