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Warum Kunst weh tut


“Ich bin Künstler, kein Sozialarbeiter”. Dieser Satz will mir in unserer zweiten Recherchewoche zu Ungebetene Gäste nicht mehr aus dem Kopf gehen. Er fiel in unserer Vorbereitungszeit in einem Gespräch mit dem belgischen Autor und Koordinator des Projekts Das einsame Begräbnis Maarten Inghels. Wir diskutierten hitzig die Frage, wem die persönlichen Texte dienten, die in dem von ihm initiierten Projekt von DichterInnen verfasst, auf das Leben einsam Verstorbener abgestimmt und schließlich am Grab eben jener vorgetragen wurden: Waren sie für die Toten gedacht? Wurden sie für die neben den DichterInnen einzig anwesenden Mitarbeiter des Beerdigungsunternehmens gelesen? Oder dienten sie am Ende den SchriftstellerInnen selbst? Obwohl wir uns einig waren, dass es vor allem um die noch Lebenden ging, blieb an unserer Diskussion ein idealistischer, beinahe naiver Beigeschmack haften. Es fielen Begriffe wie Menschenwürde und Respekt. Aber wem gegenüber erwies sich das Projekt als respektvoll? Und wie sollte ein bereits verstorbener Mensch von einem würdevollen Umgang Notiz nehmen?

In dem Vorwort des dazugehörigen und gleichnamigen Buches, das eine Auswahl der an den Gräbern vorgetragenen Gedichte versammelt, fand ich einen Absatz, der unsere ambivalente Haltung zu der von mir gestellten Frage auf paradoxe Weise zuspitzt: “Dieses Buch hat seinen Weg in die Läden gefunden: Damit ist auch der Tod all dieser Unbekannten zu einer Art Handelsware geworden. Man kann ihre Geschichte kaufen.” Die Schwierigkeit unseres Kunstschaffens liegt genau in dieser Ambivalenz zwischen gesellschaftlicher Relevanz und der Perfidität einer kunst-ökonomischen Verwertungslogik. Wir “brauchen” diese Menschen für unsere Kunst. Wir interessieren uns für ihre Geschichten, dafür, wie sie gelebt haben und weshalb sie einsam begraben wurden. Und natürlich glauben wir auch - so viel Idealismus sei erlaubt - an das Potential, gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu verändern.


Die Toten bekommen dafür gar nichts. Es hilft ihnen nicht. Sie haben noch nicht einmal darum gebeten. Niemals zuvor habe ich diese Verzwickung, die nicht zuletzt den Titel unseres Projekts schon seit unserer Konzeption prominent ziert, so sehr gespürt wie in der zweiten Woche unserer Recherche, in der wir den fragilen Spuren einsam Begrabener in ganz Wien folgen. Täglich stehen wir vor irgendwelchen Türen. Täglich Gespräche mit ehemaligen NachbarInnen und PflegerInnen. Und jedes Mal die Frage: Warum? “Wir sind wegen den Verstorbenen da.” Naja. Ganz richtig ist das nicht.




Meistens wird unsere am Ende der Woche bereits gut sitzende weil tausendfach wiederholte Erklärung freundlich akzeptiert oder mit Begeisterung und Interesse aufgenommen. Nur wenige einzelne Bemerkungen legen den Finger in die offene Wunde: Ein älterer Herr erkundigt sich, ob wir denn von einer Sekte kommen, eine Hausbesorgerin bezeichnet unser Interesse als “dubios”. Wir nehmen es jeweils mit einem Lachen auf und entgegnen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchen und wir nur Künstler seien. Ich kann es ihnen nicht ganz verübeln. Das mehrfache Klopfen und die Stimmen im Stiegenhaus lassen so manches vermuten. Mit unserer dunklen Winterkleidung ähneln wir ein wenig den Zeugen Jehovas und unser nachbohrendes Fragenstellen (“Hatte Frau X öfter Besuch von Freunden?”, “Hatte Herr Y Familie?”) muss für manch einen verzweifelt wirken.


Wir stürzen uns auf das Leben der Menschen und ihre letzten Spuren wie Geier auf das Aas. Jeden Tag erkunden wir einen anderen Bezirk und arbeiten uns langsam vor. Manchmal stoßen wir auf eine Sackgasse, manchmal auf eine Goldgrube. An manchen Tagen erfahren wir sogar mehr als uns lieb ist oder werden plötzlich ungewollt zu Überbringern einer schlechten Nachricht. Und da ist sie dann wieder, die Frage: KünstlerInnen oder SozialarbeiterInnen? Wir werden uns unweigerlich unserer Verantwortung bewusst und müssen erkennen, dass unser Projekt wortwörtlich nicht einfach an der Türschwelle eines Nachbarn endet. Vermutlich hat Ungebetene Gäste weniger mit dem Tod zu tun als mit dem Leben vieler EinwohnerInnen dieser Stadt.

Das “Dankeschön”, das wir in dieser Woche mehrfach hören, erzeugt in mir ein tiefes Unwohlsein, denn ich weiß: Das größte künstlerische “Glück” und der größte moralische Konflikt könnten nicht näher beieinander liegen. Je mehr ich erfahre, desto mehr trifft es mich - desto eher verstehe ich, dass hinter den einzelnen von uns entdeckten Spuren ganze Leben stecken. Denn ganz so einfach lassen sich diese Bereiche - Kunst und Soziales - eben nicht voneinander trennen.

Im Klappentext des Buches finde ich einen für mich versöhnlichen Gedanken: “Das Einsame Begräbnis geht von der Idee einer solidarischen Gemeinschaft aus, in der wir Verantwortung füreinander haben, über den Tod hinaus.” Kunst ist nicht messbar, sie darf verschwenderisch, provokant und zweckbefreit sein. Und doch ist sie nicht völlig losgelöst von sozialer Verantwortung.









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