Drei Dinge im Leben meide ich, sofern möglich, wie den Teufel – Frühaufstehen, Kälte und den Tod. Der Recherchestart von Ungebetene Gäste konfrontiert mich mit allen drei gleichzeitig. In Woche 1 klingelt täglich um 6 Uhr der Wecker – die Sozialbegräbnisse (früher auch als Armenbegräbnisse bekannt) finden um 8:10 Uhr (ohne Pfarrer) oder um 8:20 Uhr (mit Pfarrer) statt, in der von der Tram am weitesten entfernten Aufbahrungshalle 3.
Als wir uns der Halle nähern, erweist sich der Titel unserer Performance auf unangenehme Weise als passend: Selten habe ich mich derart fehl am Platz gefühlt. In sicherer Distanz umschleichen wir die einzelnen Säle der Aufbahrungshalle, im Versuch, möglichst unauffällig (schließlich möchten wir niemanden stören) zu erspähen, ob sich bei den drei heute geplanten Begräbnissen Angehörige zur Trauerfeier eingefunden haben. Einer der Säle bleibt leer, es ist das Begräbnis von B., und ich fühle mich schlecht, weil ich für einen kurzen Augenblick ein Gefühl von gespannter Neugierde spüre. Sollte ich nicht betroffen sein? Gleich kommt ein Mensch für immer unter die Erde, niemand taucht auf – und ich bin ausgerechnet gespannt?
Es ist ein komisches Gefühl, wenn drei offenbar Nichtgläubige als einzige einer Totenmesse beiwohnen. Der Pfarrer spricht in unsere Richtung, er erzählt routiniert von Gottes Liebe, die stärker sei als der Tod und über den Wert eines jeden einzelnen Menschen, doch als er plötzlich das, was so offensichtlich ist, ausspricht – dass wir über B. nichts wissen außer ihren Namen, ihren Geburts- und Todestag – rast eine kurze Welle durch mein Inneres, mein Körper erstarrt, der Blick fixiert das Nichts (Affekte kommen in Schüben, es sind diese kurzen, blitzhaften Augenblicke der Ahnung – !) und plötzlich schießen Tränen in meine Augen. Der Pfarrer preist die heilige Mutter Gottes, Gelegenheit, sich wieder emotional zu distanzieren – und ich vergegenwärtige mir erneut, dass ich hier als ungebetener Gast dem Begräbnis einer Unbekannten beiwohne, die ich niemals kannte. Wieso sollte ich um B. weinen? Um die Massen namenloser Toter, über die ich täglich in der Zeitung lese, verliere ich schließlich auch keine buchstäblichen Tränen. Wieso bin ich jetzt so berührt? Ist es, weil ich in meinem Vorurteil automatisch das Bild einer alten, traurigen Frau zeichne, die in ihrer kleinen Pensionistinnenwohnung saß und dort einsam und verlassen starb? Ist es die Inszenierung durch das Ritual der Kirche – die bedrückende Orgelmusik? Mir wird klar: Die Tränen, die ich herunterschlucke, beziehen sich auf eine Fiktion. Meine eigene, obendrein klischeehafte Fantasie bringt mich also zum Heulen. Was für eine egozentrische Anmaßung.
Am Ende der Woche, nach täglichen Fußmärschen durch die Eiseskälte am Zentralfriedhof, den Namen ohne Gesicht in den Leichenwagen hinterher, sitzen wir, übermüdet und überfrachtet von den Eindrücken der Woche, im Lippizanercafé der Spanischen Hofreitschule beim Death Café Vienna. Hier treffen sich Menschen, um gemeinsam über den Tod zu sprechen: Keine Selbsthilfegruppe, keine Therapiestunde, sondern ein Versuch, dem Unbegreiflichen ein wenig näher zu kommen. Ich präsentiere mich wie so oft als Querulant, der dem zu meiner ehrlichen Überraschung unter den Anwesenden weitgehend herrschenden Konsens, dass das Sehen und Berühren der Leiche eines Angehörigen helfe, dessen Verlust zu akzeptieren, entgegnet, dass ich das gar nicht brauche: Den Anblick einer Leiche betrachte ich ohnehin als Affront gegenüber der lebenden Version des nun Verstorbenen und überhaupt, der Tod als solcher ist ohnehin zur Gänze überflüssig. Ich merke, dass ich mit meiner ach-so-provokativen Meinung nur scheinbar eine Sonderstellung einnehme. Mag der individuelle Umgang mit dem Umstand unserer Endlichkeit auch verschieden sein – die Anwesenden eint die Ratlosigkeit angesichts des Todes.
Ich war mir sicher: Dieses Projekt würde mein schwieriges Verhältnis zum Tod entspannen; eine Woche nach Projektbeginn muss ich feststellen, dass der Tod einem dunklen, unbegreiflichen Abgrund gleicht, der umso finsterer und tiefer wird, je länger man in ihn hineinstarrt: Ein unbekannter Planet in einer finsteren, kalten Galaxie, schwarz und übersät von Kratern wie die Rückseite des Mondes ... Es wird Zeit, dass wir etwas über diese einsam begrabenen Menschen herausfinden, um unseren Blick wieder aufs Leben zu richten.
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